von Vincent Vélano –
Mila saß auf dem Boden, die Knie an die Brust gezogen, und blickte in den Himmel. Er war grau. Nicht grau wie eine kuschelige Decke oder ein nasser Kieselstein — sondern ein langweiliges, leeres Grau. So war der Himmel in letzter Zeit fast immer. Keine Wolken, keine Vögel, kein Blau.

„Warum ist alles so grau?“ fragte Mila leise. Niemand antwortete. Nur der Wind schob ein Abfallpapier über den Platz, wo sie jeden Samstag mit Moritz und Maike herumstromerte.
Moritz kam angerannt, eine Staubwolke hinter sich herziehend. „Guck mal!“ rief er. In seiner Hand hielt er eine zerbeulte, glänzende Murmel. „Die hab ich gefunden! War einfach so da, mitten auf dem Weg.“
Mila zuckte die Schultern. „Schön für dich.“
Moritz runzelte die Stirn. „Was ist denn mit dir los?“
„Alles ist so langweilig.“ Sie kickte einen Stein weg. „Alles ist grau und grau und grau.“
Maike tauchte hinter einem halb eingestürzten Zaun auf, grinsend, mit einer Blume im Haar. „Vielleicht musst du einfach mal anders hingucken!“
Mila verzog das Gesicht. „Wie denn?“
„Mit Zauberaugen!“ Maike klimperte mit ihren Wimpern. Moritz verdrehte die Augen.
„Glaubst du echt, das bringt was?“
Maike nickte wild. „Wenn du dir ganz, ganz doll wünschst, dass etwas schöner ist — und dann schnippst.“
„Schnippst?“
„Mit den Augen.“
Mila lachte zum ersten Mal an diesem Tag. „Wie soll das denn gehen?“
Maike zeigte es vor: sie schloss die Augen ganz fest, öffnete sie wieder und zwinkerte blitzschnell beide Augen gleichzeitig.
„Das sieht komisch aus,“ sagte Moritz.
„Probier’s doch selbst!“ rief Maike.
Mila überlegte. Einen Versuch war es wert. Vielleicht. Vorsichtig schloss sie die Augen, spürte den warmen Wind auf ihren Lidern und dachte: Ich wünsche mir Blau. Nur ein bisschen. Dann öffnete sie die Augen und schnippte gleichzeitig mit beiden Lidern.
Es war kaum zu glauben.
Ganz oben, weit über den alten Häuserdächern, schimmerte ein kleiner, zarter Fleck Blau. Erst kaum sichtbar, dann klarer, wie ein Tropfen Tinte in Wasser.
„Habt ihr das gesehen?!“ schrie Mila.
Moritz starrte in den Himmel. „Was war das denn?“
Maike klatschte in die Hände. „Ich hab’s doch gesagt!“
Mila sprang auf. „Ich hab’s gemacht! Ich hab den Himmel blau gewünscht!“
Die drei Kinder standen nebeneinander und starrten nach oben. Der kleine blaue Fleck wurde langsam größer, wie ein Loch in einer grauen Decke. Ein Vogel huschte hindurch — ein richtiger Vogel! Weiß und leicht wie Papier.
„Noch mal!“ rief Moritz.
„Ja!“ Mila presste die Augen zusammen. Ich wünsche mir einen Baum, der bunte Bonbons trägt! Sie schnippte mit den Lidern.
Plopp.
An der Ecke des Platzes , wo sonst nur ein verrotteter Müllcontainer stand, schob sich ein kleiner Baum aus dem Boden. Erst sah er ganz normal aus, doch dann sprangen überall bunte Kugeln aus seinen Zweigen — Bonbons in allen Farben, Formen und Größen.
Maike quietschte. Moritz rannte los. „Unglaublich!“
Sie pflückten Bonbons und lachten. Mila konnte kaum glauben, was sie sah und schmeckte die Bonbons. Jeder Bonbon hatte einen anderen Geschmack: Erdbeere, Apfel, Zimt, Lakritz, Zitronenkuchen.
„Vielleicht kann ich mir noch mehr wünschen?“ Mila rieb sich die Augen. „Eine Rutsche aus Schokolade!“
Wieder schnippte sie — aber diesmal geschah nichts.
„Hm,“ murmelte Moritz. „Vielleicht geht es nur einmal?“
„Oder vielleicht muss der Wunsch richtig sein,“ sagte Maike, die nachdenklich auf einem roten Bonbon kaute.
In diesem Moment schob sich eine große Gestalt aus dem Schatten des alten Uhrenturms: Herr Fadenkraut. Er trug wie immer seinen langen, zerfransten Mantel und einen breitkrempigen Hut. Niemand wusste genau, wie alt er war oder wo er lebte. Aber irgendwie war er immer da.
„Ihr habt es also entdeckt,“ sagte er mit rauer und ruhiger Stimme.
Die Kinder starrten ihn an.
„Das… das waren wir!“ stotterte Mila.
„Ja,“ nickte Herr Fadenkraut langsam. „Das Augen-Schnipp-Geheimnis.“
„Es gibt also Regeln?“ fragte Moritz misstrauisch.
„Oh ja.“ Herr Fadenkraut setzte sich auf eine kaputte Bank. „Nur echte Wünsche zählen. Keine Gier. Kein Schabernack. Und — sehr wichtig — jedes Mal, wenn ihr schnippt, verändert ihr die Welt für immer.“
Maike wurde blass. „Für immer?“
„Ja. Keine Rückgängigkeit, kein Zurückspulen.“ Herr Fadenkraut sah sie ernst an. „Manches Schöne bringt anderes aus dem Gleichgewicht.“
Mila spürte ein Ziehen im Bauch. „Was, wenn ich was Falsches wünsche?“
„Dann musst du lernen, damit zu leben,“ sagte Herr Fadenkraut. „Oder vielleicht… einen neuen Wunsch finden, der heilt, was kaputt gegangen ist.“
Sie sanken still in sich zusammen. Nur der Bonbonbaum rauschte leise im Wind.
„Also keine Schokoladenrutschen?“ fragte Moritz.
Herr Fadenkraut lachte. „Doch — wenn du sie mit einem ehrlichen Herzen wünschst. Aber denk daran: Die Welt um dich herum lebt. Sie hört zu.“
Die Kinder schauten sich an. Eine Mischung aus Angst, Aufregung und grenzenloser Möglichkeit lag in der Luft.
„Und jetzt?“ fragte Maike.
Herr Fadenkraut stand auf, sein Mantel flatterte im Wind. „Jetzt beginnt euer wirkliches Abenteuer.“
Dann war er verschwunden, so plötzlich wie er gekommen war.
Die Kinder saßen schweigend da. Der Bonbonbaum glitzerte im schwachen Licht.
„Was machen wir jetzt?“ fragte Moritz.
Mila dachte nach. „Wir probieren es aus. Aber vorsichtig.“
Maike nickte. „Vielleicht können wir die Welt ein bisschen schöner machen.“
Und so begannen sie, ihre ersten Abenteuer — kleine, wunderbare Veränderungen, die mehr bewirkten, als sie sich je hätten träumen lassen.
„Ich wünsche mir einen Baum, der bunte Bonbons trägt!“ rief Mila, ihre Stimme zitterte vor Aufregung. Noch nie zuvor hatte sie sich etwas so sehr gewünscht – und noch nie war sie sich so sicher gewesen, dass es wahr werden konnte. Mit einem entschlossenen Schnippen ihrer Augenlieder geschah etwas Außergewöhnliches.
Ein sanftes Plopp, kaum lauter als ein platzender Tropfen, durchbrach die Stille. Dann folgte ein leises Knacken, wie von sprödem Eis, das unter der ersten Frühlingssonne taut. Direkt neben dem alten Müllcontainer am Rande des Bücherplatzes brach ein winziger, leuchtend grüner Spross durch das Pflaster.
Moritz, Maike und Mila hielten den Atem an.
Der Spross wuchs rasend schnell. Innerhalb von Sekunden war er so groß wie Moritz. Dann überragte er sie alle. Aus dem Stamm sprossen Äste, die sich wie Karamellstränge wanden. Die Blätter waren bunt und durchsichtig, wie glasiertes Zuckerpapier. Und dann begannen sie zu wachsen — Bonbons in allen Farben, Formen und Größen.
Runde Bonbons, eckige Bonbons, Bonbons mit Wirbeln, mit Sprenkeln, mit Mustern, die sich bewegten, als hätten sie ein Eigenleben. Einige leuchteten im Takt des Windes, andere dufteten so intensiv, dass Maike laut lachen musste.
„Das ist der schönste Baum der Welt!“ rief sie. „Mila, du bist ein Zauberwesen!“
Mila starrte mit großen Augen nach oben. „Ich… ich hab das wirklich gewünscht. Und es ist… wirklich geworden.“
Moritz streckte vorsichtig die Hand aus und pflückte einen grün-weiß gestreiften Bonbon. Er betrachtete ihn lange. „Was, wenn er vergiftet ist?“
Maike schnappte sich einen rosafarbenen, flauschigen Bonbon und steckte ihn sich ohne Zögern in den Mund. Ihr Gesicht leuchtete auf. „Erdbeer-Marshmallow mit einem Hauch von Zimt und… Glück!“
Moritz war überzeugt. Er biss in seinen Bonbon – und lachte. „Das schmeckt wie Sommerregen!“
Mila wählte einen kleinen goldenen Bonbon, der in ihrer Hand vibrierte. Beim ersten Biss schmeckte sie Apfelkuchen mit Zimt, heißem Tee und einem Hauch von warmem Sonnenlicht.
Die Kinder tollten unter dem Baum herum, probierten die verschiedensten Bonbons. Jeder hatte einen anderen Geschmack, aber alle hatten etwas Magisches. Einer schmeckte wie das Gefühl, wenn man zum ersten Mal Schnee sieht. Ein anderer wie das Kitzeln, wenn jemand einen liebt.
Sie pflückten weiter, bis sie nicht mehr konnten. Ihre Hände waren klebrig, ihre Zungen bunt, ihre Augen glänzten.
Dann, plötzlich, hörten sie ein leises Summen. Es kam von oben. Ein Bonbon – glasklar und leicht wie Luft – war geplatzt und hatte eine kleine Melodie freigesetzt. Eine zarte Musik, wie von Spieluhren und Windspielen.
„Hört ihr das?“ flüsterte Mila.
Sie lauschten. Die Musik webte sich um sie, beruhigte, trug Erinnerungen an ferne Träume mit sich. Die Welt war nicht mehr grau. Sie war voll von Klang, Farbe und Möglichkeit.
Doch plötzlich zog ein Schatten über den Platz. Ein Vogel – nicht weiß wie der erste, sondern pechschwarz – flog über sie hinweg. Er kreiste zweimal über dem Baum und verschwand dann im Nichts.
Die Kinder sahen sich an.
„War das… normal?“ fragte Moritz.
„Nein,“ sagte Maike. „Aber wir sind ja auch nicht mehr in einer normalen Welt.“
Mila ging zum Baum zurück. Zwischen den Ästen entdeckte sie ein winziges Türchen. Es war rund und bestand aus glattem Holz, mit kleinen Mustern, die aussahen wie Zuckerkringel. Als sie es berührte, kribbelte es leicht.
„Ein Türchen,“ flüsterte sie. „Vielleicht führt es irgendwohin.“
„Ins Innere des Baumes?“ Maike war sofort Feuer und Flamme.
„Oder in eine andere Welt,“ murmelte Moritz. „Was, wenn wir hineingehen und nie wieder herauskommen?“
Mila legte die Hand auf das Türchen. „Wir wünschen doch mit dem Herzen. Vielleicht ist das hier der Anfang von etwas Größerem.“
Sie beschlossen, den Rest des Tages beim Baum zu verbringen. Immer wieder kamen neue Bonbons, neue Düfte, neue Farben. Kinder aus der Umgebung begannen sich zu nähern, angelockt von der Musik und dem Duft. Doch jedes Mal, wenn ein Fremder zu nahekam, flackerte der Baum kurz auf und wurde blass, als würde er sich verstecken.
„Vielleicht ist er nur für uns sichtbar,“ sagte Mila. „Für uns drei. Weil wir gefragt haben. Weil wir gewünscht haben.“
Am Abend, als der Himmel sich dunkel zu färben begann, saßen die drei unter dem Baum, ihre Rücken an den Stamm gelehnt, ihre Bäuche voller Bonbons, ihre Gedanken voller Fragen.
„Ich glaube,“ flüsterte Maike, „wir haben eine Aufgabe.“
„Und Verantwortung,“ sagte Moritz erneut, diesmal ernster.
„Und vielleicht… eine Geschichte zu erzählen,“ meinte Mila. „Eine Geschichte, die gerade erst beginnt.“
Dann, ganz leise, begann das Türchen zu glühnen.