Ich wünsche mir Blau. Nur ein bisschen … Teil 3 – Herr Fadenkraut

Herr Fadenkraut

Die Nacht legte sich langsam über den Platz. Die Bonbons des Baumes begannen zu glimmen wie Glühwürmchen, manche leuchteten in warmem Orange, andere in einem tiefen, beruhigenden Blau. Die drei Kinder saßen eng beieinander und betrachteten den leuchtenden Stamm.

„Ich habe noch nie so etwas gesehen,“ sagte Moritz leise.

„Ich auch nicht,“ antwortete Mila. „Es ist, als ob wir etwas geweckt haben.“

Ein Rascheln durchbrach die Stille. Es kam nicht vom Wind, sondern aus dem Schatten des alten Uhrenturms. Der Müllcontainer knarrte leicht, als hätte ihn jemand berührt. Dann trat eine Gestalt hervor, so leise, dass sie beinahe mit der Dunkelheit verschmolz.

Er war groß, aber nicht bedrohlich. Der zerfledderte Mantel, den er trug, schien aus hundert verschiedenen Stoffen zusammengenäht. Der breitkrempige Hut war tief ins Gesicht gezogen, doch als er näherkam, konnten sie seine Augen sehen: hell, wach, uralt.

„Ihr habt ihn also wachsen lassen,“ sagte die Gestalt mit einer Stimme, die zugleich wie ein Wispern im Wind und ein Echo aus einer Höhle klang.

Die Kinder standen auf. Mila spürte, wie sich ihre Hände verkrampften. Moritz stellte sich unwillkührlich etwas vor Maike.

„Wer… wer sind Sie?“ fragte Mila vorsichtig.

Der Mann zog den Hut etwas zur Seite und lächelte. Es war ein seltsames Lächeln – nicht freundlich, aber auch nicht bedrohlich. Mehr wie das Lächeln eines Lehrers, der weiß, dass eine schwierige Frage gleich gestellt wird.

„Ich bin Herr Fadenkraut,“ sagte er. „Hüter alter Geheimnisse. Und Beobachter jener, die vergessen haben, wie man wünscht.“

Moritz starrte ihn an. „Wieso wissen Sie, was wir getan haben?“

„Weil die Welt sich bewegt, wenn jemand mit offenem Herzen wünscht,“ antwortete Herr Fadenkraut. „Und weil euer Wunsch stark genug war, um den Schleier zu lüften.“

„Schleier?“ fragte Maike.

„Die Linie zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte. Zwischen dem, was die meisten Menschen sehen – und dem, was ihr gesehen habt.“

Er trat näher. Seine Schritte machten kaum ein Geräusch. „Ihr habt das Augen-Schnipp-Geheimnis entdeckt. Und das ist kein Spiel.“

Die Kinder wechselten Blicke. Mila trat mutig vor. „Ich wollte nur… etwas Schönes. Etwas, das Farbe bringt.“

Herr Fadenkraut nickte. „Ein guter Wunsch. Doch auch gute Wünsche haben Folgen.“

Er setzte sich auf eine alte, vermooste Bank. Sie knarrte unter seinem Gewicht, als wäre sie froh, wieder gebraucht zu werden.

„Hört gut zu,“ sagte er. „Es gibt drei Regeln, die ihr verstehen müsst.“

Die Kinder setzten sich vor ihn auf den Boden. Der Bonbonbaum rauschte leise hinter ihnen.

„Erstens: Nur ehrliche, tiefe Wünsche wirken. Wünsche, die aus einem echten Gefühl kommen. Nicht aus Langeweile. Nicht aus Neid.“

Maike nickte langsam. „Also kein Unsinn.“

„Zweitens: Jeder Wunsch verändert etwas. Vielleicht nur ein wenig. Vielleicht sehr viel. Aber nichts bleibt, wie es war.“

Moritz schluckte. „Und drittens?“

Herr Fadenkraut beugte sich vor. Sein Blick wurde dunkel. „Drittens: Jeder Wunsch hinterlässt eine Spur. Und jede Spur ruft andere auf den Plan.“

„Welche anderen?“ fragte Mila leise.

Herr Fadenkraut schwieg einen Moment. Dann sagte er: „Nicht alle, die von Wünschen wissen, wollen Gutes. Es gibt Schattenwünsche. Wünsche, die aus Wut geboren werden. Aus Schmerz. Und sie finden euch, wenn ihr zu oft wünscht, ohne zu fragen, warum.“

Die Kinder schwiegen. Der Gedanke war neu – und unheimlich.

„Aber… was sollen wir denn tun?“ fragte Moritz. „Wenn wir jetzt nicht mehr wünschen dürfen?“

Herr Fadenkraut schloss für einen Moment die Augen. „Ich habe nicht gesagt, dass ihr es nicht dürft. Ich sage: Ihr müsst lernen, es mit Bedacht zu tun.“

Er zog ein kleines Buch aus seinem Mantel. Der Einband war aus Leder, alt und rissig. Auf dem Cover waren Muster, die sich zu bewegen schienen, wenn man zu lange hinsah.

„Dieses Buch gehört euch nicht. Noch nicht. Aber es wird sich öffnen, wenn ihr bereit seid. Wenn euer Herz bereit ist, nicht nur für euch, sondern für andere zu wünschen.“

Er legte es zu Füßen des Bonbonbaums. Das Licht des Baumes fiel weich auf das Buch.

„Und was, wenn jemand etwas Böses wünscht?“ fragte Maike. „Was dann?“

Herr Fadenkraut sah sie lange an. „Dann beginnt das Ringen. Zwischen Licht und Schatten. Zwischen Wollen und Wissen. Dann braucht es Mut. Und Zusammenhalt.“

Mila ballte die Hände zu Fäusten. „Dann werden wir das lernen. Alles.“

Ein Lächeln huschte über Herr Fadenkrauts Gesicht. „Ich hoffe es. Denn die Welt braucht Wünsche. Gute. Wahre. Und Kinder, die nicht vergessen, zu fragen.“

Der Wind bewegte den Hut des alten Mannes. Als die Kinder blinzelten, war er verschwunden. Nur das Buch lag noch da.

Moritz trat zögernd näher. „Sollen wir es aufmachen?“

Mila schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Er hat gesagt: noch nicht.“

Maike nickte. „Aber bald. Ich spüre es.“

Sie saßen schweigend, bis die Sterne über dem Platz standen. Der Bonbonbaum war ruhiger geworden, seine Farben gedämpfter, wie im Schlaf.

Und dann, als sie schon fast eingeschlafen waren, bemerkten sie es: Das Türchen im Stamm begann zu glühnen. Ganz schwach. Ganz vorsichtig. Wie eine Einladung…

Das Türchen im Stamm des Bonbonbaums leuchtete in einem zarten Violett, als würde es selbst atmen. Die Kinder standen davor, unschlüssig. Der Abend war hereingebrochen, und über dem Platz wachte nur noch das Sternenlicht. Der Baum schien auf sie zu warten.

„Was, wenn das Türchen uns nicht zurückbringt?“ fragte Moritz, der seinen Rucksack enger zog.

„Was, wenn es uns genau dorthin bringt, wo wir hinmüssen?“ entgegnete Maike. Ihre Stimme zitterte leicht, aber sie klang auch fest.

Mila legte die Hand auf das Holz. Es war warm, fast lebendig. Sie schaute den anderen in die Augen. „Wollen wir zusammen gehen?“

Sie nickten. Gemeinsam berührten sie das Türchen. Ein sanftes Surren durchzog den Stamm, dann öffnete sich das Türchen lautlos nach innen. Dahinter lag eine spiralförmige Treppe, schwebend aus Licht und Wurzelgeflecht geformt.

Ohne zu zögern trat Mila als Erste ein.

Die Stufen führten sie tiefer in den Baum hinein, doch es war nicht dunkel. Tausende winzige Lichter tanzten in der Luft. Sie sanken wie Glühwürmchen und formten Muster, die sich veränderten, je nachdem, wo die Kinder hinschauten.

Maike blieb stehen. „Seht ihr das? Das Licht… es zeigt Bilder.“

Tatsächlich: Die Lichter formten sich zu Erinnerungen. Mila sah sich selbst als Kleinkind im Garten ihrer Oma, wo sie gelernt hatte, Marienkäfer nicht zu fangen. Moritz erkannte die Nacht, in der er seinem kleinen Bruder versprochen hatte, ihn immer zu beschützen. Und Maike sah eine Szene, in der sie einer alten Frau heimlich eine Tüte Orangen vor die Haustür gelegt hatte.

„Der Baum zeigt uns, wer wir wirklich sind,“ flüsterte Moritz.

Die Treppe endete in einem runden Raum aus Holz und Licht. Der Boden war weich wie Moos, die Decke so hoch, dass sie sich im Dunkel verlor. In der Mitte stand ein Wesen.

Es war klein, nicht größer als ein Kaninchen, und hatte durchsichtige Flügel wie ein Libellenschwarm. Sein Fell war silbrig, seine Augen groß und ruhig. Es trug einen winzigen Hut mit einer Feder.

„Willkommen,“ sagte es mit einer Stimme, die in ihren Köpfen zu singen schien. „Ich bin Funkel, Hüter des Herzensraums.“

Die Kinder setzten sich wie von selbst im Kreis um das Wesen.

Funkel neigte leicht den Kopf. „Ihr habt den Pfad betreten. Das bedeutet, ihr habt gefragt. Und wer fragt, der sucht.“

„Was ist das hier?“ fragte Maike.

„Dies ist das Innere des Wunsches. Jeder Wunsch, der mit offenem Herzen gemacht wird, hat ein Zuhause. Dieses hier ist eures.“

An den Wänden begannen Kristalle zu wachsen. In jedem flackerte ein Bild: der Bonbonbaum, der erste blaue Fleck am Himmel, das Gesicht von Herr Fadenkraut, das glühende Buch.

„Jeder Wunsch, den ihr gemacht habt, lebt hier fort. Aber nicht nur die Tat, sondern das Motiv. Das Warum.“

Moritz trat zu einem der Kristalle. Er zeigte die Szene, in der er sich wünschte, schneller als der Wind zu sein.

„Ich habe das nie gesagt,“ murmelte er.

Funkel nickte. „Aber du hast es gedacht. Und Gedanken sind die Wurzel aller Wünsche.“

Ein tiefer Ton durchzog den Raum. Einer der Kristalle war dunkel geworden. Aus ihm kroch ein Schatten.

Mila wich zurück. „Was ist das?“

„Ein Schattenwunsch,“ sagte Funkel ruhig. „Unachtsam, unbewusst. Aber nicht ungefährlich.“

Der Schatten streckte Fäden aus, tastete nach den Wänden.

„Was sollen wir tun?“ rief Maike.

Funkel hob die Pfoten. „Erinnert euch. Was habt ihr gefühlt, als ihr zum ersten Mal gewünscht habt?“

Mila schloss die Augen. „Ich habe mich nach Farbe gesehnt. Nach Hoffnung.“

Moritz: „Ich wollte teilen. Freude.“

Maike: „Ich wollte lachen.“

Das Licht in ihren Brustkörben flackerte. Dann wurde es stärker. Der Schatten wich zurück. Der dunkle Kristall riss auf, zerbrach in leuchtende Splitter.

„Ihr habt den Schatten erinnert,“ sagte Funkel. „Das ist die stärkste Kraft.“

Eine Tür erschien in der Rückwand des Raumes. Sie war aus purem Licht.

„Hinter dieser Tür liegt die Welt, wie sie sein könnte,“ sagte Funkel. „Aber ihr dürft nur einen Blick werfen. Noch nicht eintreten.“

Sie traten vor. Das Licht war warm, einladend. Dahinter sahen sie Möglichkeiten:

  • Kinder, die auf Regenbögen reiten.
  • Ein Wald, in dem jeder Baum ein Lied sang.
  • Ein Marktplatz, auf dem die Menschen in Geschichten handelten, statt mit Geld.

Dann wurde das Licht blasser. Die Tür verschwand.

„Noch nicht jetzt,“ sagte Funkel. „Zuerst müsst ihr lernen, was es heißt, zu bewahren.“

Die Tür zur Treppe erschien wieder. Die Kinder stiegen langsam nach oben. Als sie hinaustraten, war der Himmel offen und klar. Ein neuer Tag begann.

Und im Baumstamm stand eingraviert:

Wünsche, die teilen, sind die, die bleiben.

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